© DAV-LU, Ralf Flachmann

Über hohe Grate und Gipfel ums Kleinwalsertal

07.02.2024

„Das Einzige, was besser ist, als die Berge aus der Ferne anzusehen, ist die Erkundung aus der Nähe“. Diesem Motto folgend hatte Ulrich schon Monate vor dem Start die Tour geplant, Hütten gebucht, schönes Wetter bestellt und am Starttag Wanderkarte, Stöcke und Wasserflasche dabei.

Als Trio, mit Markus und Ralf, sind wir gespannt auf die „Umrundung“. Was aber nutzt das, wenn kurz vor Ladenschluss festgestellt wird, dass die Wanderhose zuhause liegt und die Jeans nicht hochtourtauglich ist? In Riezlern halten wir es mit Geier Sturzflug und „steigern das Bruttosozialprodukt“ im örtlichen Sportgeschäft mit Hilfe einer kompetenten Dame, die Längen und Taillenweiten gezielt kombiniert. Was macht man, wenn man kein Handtuch dabei hat, aber morgens nicht als „nasser Lappen“ zum Frühstück kommen will? Man leiht sich eins am Start, im Mahdtalhaus, und vergisst es auf einer anderen Hütte. Ansonsten…. alles paletti, super Frühstücksbuffet im Mahdtalhaus, gute Beine und gute Stimmung. Ulrich hatte allen mitgegeben, dass die ersten 2 Tage die anspruchsvollsten sein würden, danach wäre es dann Genusswandern. Also los….

Der Hohe Ifen (2223m) liegt noch in der Ferne, der Aufstieg durch das kühle Mahdtal zum Windecksattel ist angenehm. Wir stoppen kurz am Hölloch, einer 12km lange Karsthöhle, 450m tief, die erstmals 1906 vermessen wurde. Die Filme „Abstieg ins Hölloch – 3 Tage in unbekannter Finsternis“ oder gar „Highway to Hell“ haben wir nicht im Hinterkopf als es vorbei an der Mahdtalalpe entlang der Oberen Gottesackerwände weiter aufwärts geht. Dafür machen sich leider Krämpfe in beiden Beinen von einem von uns bemerkbar. Nicht gerade gutes Timing, denn vor dem Gipfel müssen wir noch den „Friedhof“ queren, das Gottesackerplateau.

Woher dieser Name stammt, ist nicht klar: manche erinnert das Plateau an eine Friedhofslandschaft, andere nehmen vorlieb mit der Sage, nach der ein Bettler auf einer Alpe nach etwas Schmalz fragte. Im Gefäß unter der dünnen Schmalzschicht war jedoch Mist. Für diese Verhöhnung strafte Gott den Senn und seine Familie – aus der Alpweide wurde diese Felslandschaft. Die Verwitterung des sogenannten Schrattenkalks ist bizarr, teilweise scharfkantig, in vielerlei Formen, mit Klüften. Wir sehen Dolinen und Spalten und laufen, die deutsch-österreichische Grenze wiederholt kreuzend, bis zur Bergstation der Hahnenköpflebahn. In der Sonne ist es mittlerweile recht warm geworden und der Schweiß fließt.

Noch kurz etwas hinunter, dann wieder hoch (das Übliche bei Bergwanderungen) durch einen Hang aus Geröll; wir nähern uns der Kante, jetzt geht es quer durch die Wand, die an einigen Stellen mit Stahlseilen gesichert ist. Am Gipfelkreuz sind wir aber erst nach einem längeren steinigen Weg auf der schrägen Felsplatte, die den Hohen Ifen (2230 m) so prägnant für das Kleinwalsertal werden ließ. Die grüne, sich sanft nach Süden neigende Hochfläche bricht nach den anderen Himmelsrichtungen mit senkrechten, nicht wirklich hohen Wänden ab, der bekannten Ifenmauer. Der Blick geht über die kilometerweite Karstfläche, zum Roßkopf und zum Hirschegg. Über den Eugen Köhler-Weg, der im Bogen durch die plattige Südflanke führt, steigen wir steil in Richtung Endziel, der Schwarzwasserhütte, ab. Über mehrere hundert Meter ist der Weg durch eingebohrte Trittschienen und Drahtseile gesichert, was besonders bei Feuchtigkeit wichtig ist. Mit einem Endspurt kommen wir gerade kurz nach 18:00 an, um unsere Buchung nicht zu verlieren (der Hüttenwirt versicherte aber, dass er keine Buchungen storniert und nach 18:00 an andere vergibt). Wir erwischen noch das Abendessen und verringern unser Flüssigkeitsdefizit mit etlichen Bieren und Schorlen. Die Krämpfe sind das unerwartete Diskussionsthema am Abend und mit der DAV-Karte vor Augen werden Alternativen für den nächsten Tag beratschlagt und vom morgendlichen Wohlfühlen abhängig gemacht. Im Schlafsaal sind noch die Corona-Abtrennungen vorhanden, das grelle Notlicht verhindert bei manchem ein schnelles Einschlafen. Gab es Schnarcher? An diesem Abend hat mich keiner gestört.

Nach dem Frühstücksbuffet soll der “Point of no return“, die Ochsenhofer Scharte, die Entscheidung für die zweite Tagesroute bringen: entweder planmäßig übers Grünhorn, Güntlespitze, Üntschenpass, durchs Bärgunttal zur Widdersteinhütte oder doch schon jetzt Genusswandern. Es wird der „Genuss“, versüßt durch eine Murmeltierfamilie in der Morgensonne, mit Knabenkräutern am Wegesrand, mit Silberwurz-Fruchtständen im Gegenlicht, bevor wir am Walmendinger Horn mit der Seilbahn nach Mittelberg abfahren. Im Schatten Cappuccino, Erdbeerbuttermilch und Eis genießen, Beine langmachen und irgendwann aufbrechen, um durch Mittelberg ins Gemsteltal zu laufen und gemächlich hochzusteigen.

Vor dem finalen Anstieg zur Widdersteinhütte füllen wir noch die Flüssigkeitsdepots auf der Obergemstel-Alpe auf. Abends auf der Widdersteinhütte haben wir Licht und Schatten: Supersonnenschein und Liegestühle zum Sonnenbaden mit einer tollen Aussicht ins Schwarzwassertal und auf den Hohen Ifen, aber auch die Nachricht, dass am nächsten Tag der Widderstein nicht erklommen werden kann. Immer noch plagen einen von uns Krämpfe. Es scheint, als hätte der nepalesische Koch dies gehört und formt mit den Spaghettiportionen „Mini-Widdersteine“ für uns.

So gewinnen wir auch für den 3. Tag etwas Zeit. Irgendwie scheint die Zeit sowieso anders zu vergehen als im Arbeitsalltag. Wir können diese „Zeitenwende“ aber auch ganz physikalisch belegen: unser Guide hat eine Armbanduhr dabei, die nur 2x am Tag die korrekte Zeit anzeigt. Dazwischen haben wir „alle Zeit der Welt“ und beschließen, statt des Widdersteins das am Wege liegende (Walser) Geißhorn mit 2366m zu besteigen. Wir haben tolle Sicht, sehen schon die Mindelheimer Hütte als Abendziel und können im Sekundenrhythmus von Deutschland nach Österreich und vice versa wechseln, denn über das Geißhorn verläuft die Landesgrenze. Die Jugendlichen am Gipfel machen ihren Gruppenblödsinn und haben Spaß, und vermerken respektlos im Gipfelbuch: „Jakob wollte scheißen, konnte aber nicht. lol. War trotzdem lustig.“     C’est la vie. Die Tischrunde an Abend ist gesellig, Erfahrungen werden ausgetauscht, draußen schüttet es. Dem Jungspund und Hochtour-Neuling unter uns macht dies fürs Fotografieren nichts aus und er schießt schöne Bilder vom „Alpenglühen“. Mir bleibt von der Mindelheimer Hütte besonders der „Handy-Ausschalter“ und ein Steinbock-Video in Erinnerung. Mein Kojennachbar stieg sehr früh morgens aus seinem Schlafsack und verschwand – er wusste, dass Steinböcke oft nahe der Hütte zu sehen sind. Später in der langen Frühstücksschlange (mehr als 10m) zeigte er ein imposantes Video von zwei kämpfenden Steinböcken, in direkter Nähe der Hütte und mit geringer Fluchtdistanz, das er mit seinem Handy aufgenommen hatte.

Auch wir haben das Glück, zwei Steinböcke (weit entfernt) zu sehen und es ist sogar soweit abgetrocknet, dass wir den Mindelheimer Klettersteig am 4. Tag gehen können. Bergsteigen.com beschreibt den Klettersteig so: „Der Mindelheimer-Klettersteig verläuft in einer interessanten Routenführung über den wild zerklüfteten Gipfelgrat der drei Schafalpenköpfe. Die atemberaubende Aussicht und die anregend ausgesetzten Einzelstellen lassen eine Begehung des Klettersteiges zu einer beinahe alpin anmutenden Bergtour werden. Vom Charakter ähnlich der Watzmann-Überschreitung, nur viel kürzer- also gut als Vorbereitungstour für Größeres geeignet! Die Aussicht auf den gegenüberliegenden Allgäuer Hauptkamm, der Blick kann von der Trettachspitze bis zum Biberkopf schweifen, ist einfach einzigartig.“ Alles gesagt, vielleicht etwas zu überschwänglich, aber der Sommertag, an dem der Steig weder überlaufen ist noch viel Gegenverkehr hat, ist großartig.

Wie unser erster Tag wird auch der letzte Tag heftig. Es ist heiß, im schattigen Eingang der Fidererpasshütte sind es 26°C gegen 15:00 Uhr. Bei Bier und Brotzeit kommen wir zu der Einsicht, dass die Zeit für die Wegstrecke bis zur Bergstation, um die letzte Talfahrt der Kanzelwandbahn zu erreichen, uns nicht reichen wird. Die Sonne brennt und alle denken: wenn es doch nur etwas kühler wäre! Statt Gondel zu fahren, laufen wir steil hinab und – rasten schon wieder an der Fluchtalpe, schon wieder den Flüssigkeitsverlust ausgleichend. Ab jetzt durchs Wildental vorbei an bewirtschafteten Wiesenalpen, durch Wald und Wiesen nach Höfle, Abkürzungen erfragend. Wir sehen schon die Straße, als dort der Bus, den wir nehmen wollten, gerade hinter der Kurve verschwindet. Laut Fahrplan dauert es lange bis zum nächsten. Aber wir haben es uns wohl verdient: innerhalb der nächsten 5 min kommt ein Bus (von nirgendwo?), mit einmal Umsteigen geht es nach Riezlern und praktisch pünktlich zu den abendlichen Käsespätzle und frischem Salat sind wir beim Koch und Chef der „Bearded Board Brothers“, dem Hüttenwirt des Mahdtalhauses. Deren Snowboarding-Motto ist: „Eat-Sleep-Ride-Repeat“. 

Was habe ich von der Tour mitgenommen? Die ungewöhnliche Erkenntnis, dass ich literweise trinken kann, ohne danach austreten zu müssen. Und dass Ulrich das Motto für 2024 gerne modifiziert übernehmen kann: Eat-Sleep-Hike-Repeat!

von Ralf Flachmann